Balanceakt zwischen public und private enforcement
Neben der behördlichen Durchsetzung von Kartellvorschriften ist in Europa auch die Verfolgung von Kartellrecht durch Privatpersonen im Wege von Schadensersatzklagen möglich. Schadensersatzklagen sollen zur Abschreckung beitragen, indem sie das finanzielle Risiko für Kartellmitglieder erhöhen. Das Verhältnis zwischen diesem „private enforcement“ und „public enforcement“ ist aber nicht in jeder Hinsicht konfliktfrei. Die Entscheidungen des Amtsgerichts Bonn und des EuGH in der Sache „Pfleiderer“ haben einen bedeutenden Konflikt ins Rampenlicht gerückt. Ingo Klauß, Kartellrechtsexperte bei Linklaters, erläutert das Problem.
Neben der behördlichen Durchsetzung von Kartellvorschriften ist in Europa auch die Verfolgung von Kartellrecht durch Privatpersonen im Wege von Schadensersatzklagen möglich. Schadensersatzklagen sollen zur Abschreckung beitragen, indem sie das finanzielle Risiko für Kartellmitglieder erhöhen. Das Verhältnis zwischen diesem „private enforcement“ und „public enforcement“ ist aber nicht in jeder Hinsicht konfliktfrei. Die Entscheidungen des Amtsgerichts Bonn und des EuGH in der Sache „Pfleiderer“ haben einen bedeutenden Konflikt ins Rampenlicht gerückt. Ingo Klauß, Kartellrechtsexperte bei Linklaters, erläutert das Problem.
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Das Bundeskartellamt hatte gegen Hersteller von Dekorpapier Bußgelder wegen Preis- und Kapazitätsabsprachen verhängt. Um Schadensersatzklagen gegen Kartellmitglieder vorzubereiten, beantragte das Unternehmen Pfleiderer, ein Abnehmer von Dekorpapier, Einsicht in die Verfahrensakte. Dabei wollte Pfleiderer auch in die so genannten Bonusanträge Einsicht nehmen. Diese werden von Kronzeugen gestellt, die sich dem Bundeskartellamt offenbaren und so zur Aufdeckung von Kartellen beitragen. Das Bundeskartellamt hatte die Einsichtnahme abgelehnt. Das von Pfleiderer dagegen angerufene Amtsgericht Bonn hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob EU-Recht es Geschädigten eines Kartells verbietet, zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen Einsicht in Bonusanträge bei den nationalen Kartellbehörden zu gewähren. Der EuGH verneinte dies in einer viel kritisierten Entscheidung. Er wies es den nationalen Gerichten zu, im Einzelfall das Interesse an der Übermittlung der Informationen gegen den Schutz der von Kronzeugen vorgelegten Informationen abzuwägen und auf dieser Grundlage zu bestimmen, ob und wie weit Einsicht zu gewähren ist.
Keine generelle Entscheidung getroffen
Problematisch ist dies vor allem, weil der EuGH keine generelle Entscheidung zugunsten des public oder des private enforcement des Kartellrechts getroffen und den Konflikt zwischen Kronzeugenprogrammen und privaten Kartellklagen nicht aufgelöst hat. Stattdessen bürdet er den nationalen Gerichten auf, das Verhältnis zwischen privater und behördlicher Durchsetzung in jedem Einzelfall zu entscheiden. Damit besteht weder für Kartellgeschädigte noch für ausstiegswillige Kartellbeteiligte Rechtssicherheit, ob sie auf Einsicht in den Kronzeugenantrag hoffen dürfen bzw. diesen fürchten müssen.
Von dieser Entwicklung beunruhigt sind insbesondere die Kartellbehörden, die nun die Attraktivität ihrer Kronzeugenprogramme und damit die Durchschlagskraft des public enforcement insgesamt gefährdet sehen. Die Besorgnis ist nachvollziehbar. Kronzeugenprogramme sind das wohl erfolgreichste Instrument in der Kartellverfolgung. Sie treiben einen Keil der Unsicherheit in die geschlossene Formation der Kartellmitglieder und begründen ein Gefangenendilemma. Weltweit dürfte der überwiegende Teil der erfolgreichen Kartellverfahren auf Kronzeugenanträge zurückgehen. Private Schadensersatzklagen erhöhen das Abschreckungspotenzial für den Fall der Aufdeckung, tragen aber zur Aufdeckung geheimer Kartellabsprachen fast nichts bei. Sie sind in Europa in aller Regel follow-on-Klagen, die abgeschlossenen behördlichen Verfahren folgen.
Die Effektivität der Kronzeugenprogramme steht und fällt jedoch mit den Anreizen, die Kartellaussteigern geboten werden. Der Befreiung von Geldbußen steht dabei vor allem das Risiko eines Kronzeugen gegenüber, von Kartellopfern auf Schadensersatz verklagt zu werden. Geschädigte können jedes Kartellmitglied für den gesamten Schaden in Anspruch nehmen und suchen sich das leichteste Ziel aus. Das Risiko für Kronzeugen steigt daher, wenn Geschädigte Einblick in die Kronzeugendokumente nehmen können.
EU-weite verbindliche Regelung wünschenswert
Die Gefahr, dass Kartellbeteiligte wegen des erhöhten Schadensersatzrisikos künftig von Kronzeugenanträgen absehen könnten, veranlasste schließlich auch das Amtsgericht Bonn, den Antrag von Pfleiderer abzuweisen. Rechtssicherheit für andere Fälle schafft diese Entscheidung auf Grund des Einzelfallcharakters der europarechtlich gebotenen Interessenabwägung allerdings nicht, schon gar nicht für Verfahren in anderen Mitgliedstaaten. So hat kürzlich ein Gericht im Vereinigten Königreich – ebenfalls in Anwendung der Pfleiderer-Entscheidung des EuGH – Einsicht in Kronzeugenunterlagen in begrenztem Umfang gewährt.
Diese Unsicherheit ist schwer erträglich. Ob Schadensersatzkläger Einsicht in Kronzeugenunterlagen nehmen dürfen, muss für alle betroffenen Unternehmen vorhersehbar sein. Diese Grundsatzentscheidung über die richtige Balance zwischen public und private enforcement sollte nicht immer wieder erneut in Einzelfallentscheidungen, sondern abstrakt-generell getroffen werden, vorzugsweise einheitlich für die gesamte EU. Generalanwalt Ján Mazák hatte in seinen Schlussanträgen in der Sache Pfleiderer eine mögliche Lösung skizziert, indem er vorschlug, keine Einsicht in selbstbelastende Stellungnahmen des Kronzeugen zu gewähren, jedoch in andere bereits vorhandene Unterlagen, die ein Kronzeuge mit seinem Antrag einreicht. Da sich der EuGH anscheinend nicht befugt sah, diese Grundsatzentscheidung zu treffen, ist es nun Aufgabe des Gesetzgebers, Klarheit zu schaffen.
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