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Welchen Kurs fährt die EU bei Sammelklagen?

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Ende September gab es überraschende Neuigkeiten aus Brüssel. Zunächst verkündete EU-Justizkommissarin Viviane Reding, das Thema Sammelklage stehe in Europa nicht mehr auf der Tagesordnung. Infolge der Wirtschaftskrise habe es Priorität, die Unternehmen abzusichern und ihnen keine zusätzlichen Kosten aufzubürden. Einen Tag später dementierte der Pressedienst der Kommission: Eine Entscheidung hierzu sei nicht gefallen, auch eine Richtlinie komme nach wie vor in Betracht. Was steckt hinter diesem Hin und Her? Bernd Meyring, Kartellrechtsexperte und Partner der internationalen Anwaltssozietät Linklaters, erläutert die Hintergründe.

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In den USA ziehen Kartellverfahren systematisch Sammelklagen nach sich. Für Kartellbeteiligte, die zu Bußgeldern verurteilt wurden, entstehen dadurch meist weitere Kosten in Millionenhöhe. Sie müssen Schäden gleich dreifach ersetzen. Dieses System hat eine Klageindustrie hervorgebracht, die Konzerne mit Sammelklagen überzieht, sobald irgendwo ein Kartellverdacht aufkommt. Dabei profitieren vor allem Klägeranwälte: Mit Sammelklagen können sie ohne Mandat Geschädigte vertreten, die sich nicht von der Klage distanzieren. Gewinnen sie die Prozesse, streichen sie einen Teil der Forderung als Erfolgshonorar ein. Selbst bei an sich aussichtslosen Verfahren bleibt den Beklagten oft kein anderer Weg als ein Vergleich. Denn nur so können sie den enormen Prozessaufwand vermeiden, den die Abwehr einer zulässigen Sammelklage mit sich bringt. Die Sammelklagen sind in diesem System der zweite Arm der Kartellrechtsdurchsetzung und haben einen hohen Abschreckungseffekt. Zudem sollen sie Verbraucher entschädigen, die letztlich den Schaden tragen, wenn ein Kartell künstlich die Preise nach oben treibt.

Kartellschadenersatz lange Zeit kein Thema
Sammelklagen und die dadurch hervorgebrachte Klageindustrie werden in Europa seit einigen Jahren kontrovers diskutiert. Denn den zivilrechtlich geprägten EU-Staaten auf dem Kontinent sind diese Instrumente fremd. Hier steht der Ersatz tatsächlich entstandener und nachweisbarer Schäden im Vordergrund. So waren die Gerichte gerade bei Kartellschadenersatz lange zurückhaltend. Seit 2003 versucht die EU-Kommission, das zu ändern. Sie brandmarkte den Rechtsschutz für Kartellopfer in den Mitgliedstaaten als „völlig unterentwickelt“ und forderte besseren Opferschutz. Zwei Jahre später folgte ein Grünbuch zur Vorbereitung EU-weiter Regeln, etwa zu Sammelklagen, Strafschadenersatz und einer Beweislastumkehr. Ziel war es, die Stellung der Kläger zu stärken, um auch in Europa auf stärkere Abschreckung zu setzen. Diese Vorschläge wurden 2005 in einem Weißbuch konkretisiert. Unter Führung von Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes wurde ein Richtlinienvorschlag erarbeitet, um die Klägerrechte und Verfahren in Europa zu vereinheitlichen.

Das Thema schaffte es aber bisher nicht einmal auf die Brüsseler Tagesordnung. Widerstand regte sich zunächst im Europaparlament. Dort sah der Wirtschaftsausschuss kein Interesse daran, die europäische Wirtschaft in schwierigen Zeiten mit weiteren Risiken zu belasten. Zudem plante die Kommission eine Richtlinie ohne Zustimmung des Parlaments, und die Parlamentarier drängten auf Mitentscheidung. Der Moment war günstig, denn Kommissionspräsident José Manuel Barroso stand zur Wiederwahl und brauchte dafür die Abgeordneten. Und so verlief die Initiative zunächst im Sande. Barroso wurde wiedergewählt und ersetzte Kroes durch Joaquín Almunia. Der hatte indes andere Prioritäten, und so wurde es still um die Europäische Sammelklage.

EU-Kommission hinkt der Praxis hinterher
Nun also der undurchsichtige Vorstoß der Justizkommissarin. Dass sich Brüssel mit dem Projekt schwer tut, überrascht nicht. Selbst in den USA, dem Mutterland der Sammelklagen, gibt es laute Kritik am System und am Missbrauch durch notorische Klägeranwälte. Zudem hat die Praxis im vergangenen Jahrzehnt die Ambitionen der Kommission überholt: Während die Gesetzgebungsmaschine der EU stotterte, waren die Mitgliedstaaten schneller. Sie stärkten die Position von Klägern und führten Sonderregeln für den Kartellschadenersatz ein. So hat Deutschland etwa das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen schon 2005 novelliert. Auch England entwickelt sich zu einem beliebten Forum für Schadenersatzklagen. Führende amerikanische Klägeranwälte haben längst Kanzleien in Europa, die Sammelklagen betreiben. Dabei spielen sie die Systemunterschiede zwischen den EU-Staaten aus und suchen sich die im Einzelfall erfolgversprechendsten Gerichte aus.

Auch manche Unternehmen haben Sammelklagen als Geschäftsmodell entdeckt. Sie kaufen gezielt Forderungen Kartellgeschädigter auf, um sie dann gebündelt einzutreiben. So lohnt sich der Prozessaufwand auch bei Streuschäden, die sich auf eine große Zahl von Kunden verteilen. Gerade in Deutschland sind solche Modelle erfolgreich und von den Gerichten als zulässig anerkannt. Hinzu kommt, dass die Kommission den Klägern öffentlichkeitswirksam als Vorbild dient: 2007 hatte die Behörde in einem Kartellverfahren Hersteller von Aufzügen wegen Preisabsprachen zu Geldbußen von fast 1 Mrd. Euro verurteilt. Anschließend zog die Kommission selbst gegen die beteiligten Unternehmen vor Gericht und verlangte Schadenersatz. Denn auch sie sei bei der Anschaffung ihrer eigenen Aufzüge von den überhöhten Angeboten des Kartells betroffen gewesen. Das Verfahren schreitet zügig voran – auch ohne eine Richtlinie zum Schadenersatz.

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