Nachhaltigkeit und Regulierung – Ein steiniger Weg
Doch was bedeutet „Nachhaltigkeit“ überhaupt? Und meint „ESG“ (für „Environmental – Social – Governance“) wirklich dasselbe? Hier beginnt bereits das Dilemma. „Nachhaltigkeit“ lässt sich kaum allgemeingültig definieren. Verbreitet ist der Gedanke, dass ökonomische Aspekte mit sozialen Gesichtspunkten verknüpft und um ökologische Perspektiven ergänzt werden. Dem entspricht auf staatlicher Ebene das Zielbild einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft. Frühe Ansätze betrafen die nachhaltige Forstbewirtschaftung – bei Lichte besehen kein primär ökologischer Ansatz, denn es ging um eine eigentlich zwingende Einsicht, die allem Wirtschaften zugrunde liegen sollte. Eine dauerhaft ertragreiche Bewirtschaftung des Waldes setzt voraus, dass jeweils nur so viel Holz entnommen wird, wie nach dem natürlichen Lauf der Dinge nachwächst. Indigene Völker leben noch heute so, vorausgesetzt, dass die „Zivilisation“ sie lässt.
Von solchen Anfängen hat sich die moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft weit entfernt. Inanspruchnahme und Verbrauch natürlicher Ressourcen, Entnahme von Rohstoffen, Lagerung von Abfällen und Ausstoß von Treibhausgasen – für lange Zeit waren dies vermeintlich unumgängliche Begleiterscheinungen von Wachstum und Fortschritt. Allenfalls Grenzen der Verfügbarkeit wurden thematisiert. Preise produzierter Waren und erbrachter Dienstleistungen spiegeln die Kosten der Inanspruchnahme natürlicher Ressourcen nur unvollkommen wider. Die nicht mehr ernsthaft anzweifelbare wissenschaftliche Erkenntnis, dass die natürlichen Lebensgrundlagen sich durch menschlichen Einfluss mit unabsehbaren Folgen ändern, öffnet die Augen für einschlägige Zusammenhänge. Der Klimawandel ist die aktuell größte und dringendste Herausforderung der Menschheit.
Die Politik blieb angesichts dessen nicht untätig. Auf Ebene der Vereinten Nationen kam es zum Pariser Klimaschutzabkommen von 2015. Das ambitionierte Ziel: Begrenzung der Erderwärmung auf 2, möglichst 1,5 Grad Celsius. Zeitgleich gab es eine weitere wichtige Entwicklung im weltweiten Bemühen um gleiche Entwicklungschancen, politische und gesellschaftliche Stabilität, soziales und umweltverträgliches Wachstum. Man verständigte sich im Rahmen der „UN Agenda 2030“ auf 17 umfassende Ziele für eine weltweit nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – „SDGs“).
Ein wesentlicher Handlungsstrang in Sachen „Nachhaltigkeit“ hat damit einen konkreten Fokus auf den Klimaschutz, während ein anderer einem sehr breiten und umfassenden Ansatz folgt. Das Kürzel „ESG“ hat erkennbar eine Affinität zu den „SDGs“, aber eine andere Historie. Es handelt sich nicht um eine mehr oder weniger „offizielle“ Schöpfung. Es ist eine Etikettierung, die insbesondere Entwickler von „nachhaltigen“ Geldanlageprodukten populär gemacht haben. Unternehmen, in die beispielsweise Investmentfonds investieren, werden unter ökologischen und sozialen Gesichtspunkten analysiert, sowie im Hinblick auf die Unternehmensführung. Dabei können, müssen aber nicht, Aspekte des Umwelt- oder Klimaschutzes eine Rolle spielen. Es können auch Themen wie Arbeitnehmerrechte, die Diversität von Leitungsorganen oder Rechtsverstöße („Compliance“) im Fokus sein. Ein weites Feld subjektiver Würdigungen. Einige Themen sind auch nicht neu. Man trifft sie jetzt vermehrt als Bestandteil einer sogenannten „Nachhaltigkeits“-Agenda wieder. Erschwerend hinzukommt, dass „Nachhaltigkeit“ weitestgehend kein Zustand, sondern ein (Transformations-)Prozess ist.
Dieser Situation sieht sich der Gesetzgeber gegenüber, wenn er sich anschickt, nachhaltige wirtschaftliche Betätigungen und Investitionen zu regeln. Auf EU-Ebene wurde das Pferd von hinten aufgezäumt. Mit dem im März 2018 vorgelegten „Aktionsplan: Finanzierung nachhaltigen Wachstums“ wurden regulatorische Vorgaben angestoßen, die die Finanzindustrie betrafen, nicht etwa die Realwirtschaft. Die Taxonomie-Verordnung soll ein Klassifikationssystem etablieren und damit ein Herzstück der Nachhaltigkeitsagenda sein, mit einem klaren Umwelt- und Klimafokus. Die Offenlegungs-Verordnung soll Transparenz im Zusammenhang mit Finanzprodukten schaffen, hat dabei aber eher weite und im Detail uneinheitliche Vorstellungen von „Nachhaltigkeit“. Änderungen des MiFID-Regelwerks sollen Nachhaltigkeitspräferenzen von Anlegern ins Licht rücken, bedienen sich dabei bestimmter Kategorien der anderen Regelwerke und werfen weitere Fragen auf.
Es fehlt an verlässlichen und widerspruchsfreien Kategorisierungen. Mit juristischen Mitteln lassen sich ergebnisoffene und dynamische Entwicklungen nur schwer sinnvoll erfassen und beschreiben. Dass „Nachhaltigkeit“ auch ein politisch hochsensibles und ambivalentes Thema ist, zeigen Diskussionen um die Rolle von Atomenergie und Erdgas im Rahmen der Umwelttaxonomie. Auch etwaige Weiterungen in Richtung einer „Sozialtaxonomie“ berühren Kernfragen von Weltanschauungen und Staatsverständnis. Und schließlich sind alle gesetzgeberischen Anstrengungen so lange unvollkommen, wie nicht hinreichende Daten zur Nachhaltigkeit des unternehmerischen Wirtschaftens allgemein verfügbar sind. Hier steht immerhin ein wichtiger Schritt bevor. Auf EU-Ebene wird aktuell der Vorschlag einer Richtlinie über eine weitergehende unternehmensbezogene Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) erörtert.
Was die einschlägige Regulierung anbelangt, ist also „nachhaltig“ für Komplexität gesorgt, mit entsprechend großem Auslegungs- und Beratungsbedarf für den Rechtsanwender.
Zum Autor:
Der Bank- und Finanzmarktaufsichtsrechtler Markus Lange verstärkt seit Anfang 2022 das Frankfurter Büro von Baker Tilly. Zu seinem Beratungsprofil gehören sämtliche regulatorische Themen von Banken, Versicherungen, Asset Managern sowie Verbänden und öffentlichen Institutionen. Dabei legt er einen besonderen Schwerpunkt auf die Themen MiFID, Governance und Compliance sowie Nachhaltigkeit.