Whistleblowing-Urteil: EGMR schwächt Unternehmensinteressen
Nach Ansicht der Straßburger Richter ist es Ausdruck der Meinungsfreiheit des Arbeitnehmers, Kritik an seinem Arbeitgeber öffentlich zu machen. In dem verhandelten Fall hatte eine Altenpflegerin öffentlich erklärt, dass die Bewohner eines Pflegeheims wegen fehlenden Personals nicht ausreichend versorgt seien. Nachdem die Geschäftsführung nicht für Abhilfe sorgte, erstattete sie Strafanzeige wegen Betrugs und verteilte Flugblätter. Der Arbeitgeber kündigte ihr daraufhin fristlos. Auch wenn zuvor das Landesarbeitsgericht Berlin dem Arbeitgeber Recht gab, hält der EGMR nun mit dem Argument dagegen, es beschränke die Meinungsfreiheit, wenn ein Arbeitnehmer für solche Maßnahmen gekündigt würde.
Die Pflegerin mag in dem konkreten Fall moralisch im Recht sein. Für viele Arbeitgeber bedeutet das europäische Urteil nun jedoch massive Rechtsunsicherheit. „Dies ist nicht verwunderlich, denn bislang war es in der deutschen Rechtsprechung einhellige Meinung, dass das Arbeitsverhältnis auch beidseitige Treuepflichten mit sich bringt“, so Monika Birnbaum, Fachanwältin für Arbeitsrecht bei FPS Rechtsanwälte & Notare.
Zu diesen Pflichten gehören auf Arbeitnehmerseite die Rücksichtnahme auf Geschäftsinteressen des Arbeitgebers und Verschwiegenheit. Demnach ist im Falle von leichtfertig falschen öffentlichen Angaben oder richtigen Angaben, aber vor dem Hintergrund einer Schädigung von Geschäftsinteressen, diese Rücksichtnahme-Verpflichtung so massiv verletzt, dass das Arbeitsverhältnis nicht mehr fortbestehen kann.
Außerdem galt bisher, dass arbeitsrechtliche Probleme auch arbeitsrechtlich zu lösen sind und nicht auf anderen Ebenen wie durch Strafverfahren. Umgekehrt darf daher ein Arbeitgeber auch nicht mit einer Anzeige drohen, um den Arbeitnehmer zu einer Eigenkündigung zu drängen. „Dieses Prinzip ist mit dem nun ergangenen Urteil nicht mehr viel wert. Umso wichtiger wird es, dass Arbeitgeber – vor allem unter Compliance-Gesichtspunkten – zukünftig Beschwerden von Arbeitnehmern ernsthaft verfolgen“, so Birnbaum. Sonst riskierten sie, dass durch Strafanzeigen und öffentliche Bekanntmachungen Betriebsinterna nach außen getragen werden.