Die Pleite-Risiken steigen
Die Zwickmühle aus steigenden Kosten, Material- und Personalknappheit sowie steigenden Zinsen schlägt für viele Unternehmen langsam richtig zu. Im vergangenen halben Jahr, beobachtet Johannes Tieves, Finanzierungsexperte bei Hengeler Mueller, haben die Firmen darum „so viel Liquidität aufgebaut, wie sie nur konnten“. Die Cash-Bestände, rechnete gerade Freshfields Bruckhaus Deringer vor, sind in Deutschland zuletzt so stark gestiegen wie noch nie in den vergangenen zehn Jahren, mit Ausnahme der ersten Corona-Panik im Jahr 2020. Möglichst große Kreditlinien für möglichst lange Zeit zu sichern, gehörte zu den Hauptaufgaben der Finanzchefs.
Frisches Geld gibt’s nicht für alle
Doch hier trennt sich, wie in Krisenzeiten eben üblich, die Spreu vom Weizen. „Die vorhandene Liquidität kommt vor allem Unternehmen mit Investment Grade-Rating zugute. Wer niedriger geratet ist, wird sich hingegen schwertun“, erklärt Freshfields-Finanzierungspartner Michael Josenhans. Ein neues Hindernis türmt sich vor einigen Unternehmen in Gestalt der ESG-Regeln auf, denen inzwischen die meisten Kreditgeber folgen. In bestimmten Fällen, berichtet Hengeler-Partner Teves, habe dies schon dazu geführt, dass sich gesunde Unternehmen auf Wachstumskurs kaum noch refinanzieren konnten, weil einzelne Sparten in den falschen Bereichen aktiv waren, etwa in der Öl- und Gasförderung.
Auch die Geduld der Kreditgeber hat heute engere Grenzen. „Viele Banken steigen früher aus als in der Vergangenheit, wenn ein Kreditrisiko zu groß wird“, sagt Freshfields-Partner Josenhans. Daran sind nicht nur die strikteren Risiko-Vorschriften der EZB und anderer Regulatoren schuld, sondern auch schlichte Personalknappheit. Nach zehn Jahren Boom sind die Workout-Abteilungen in vielen Banken stark geschrumpft, und mit ihnen die im Haus vorhandene Expertise für fällige Restrukturierungen.
Nachdem sich die Lieferkettenprobleme, die das produzierende Gewerbe unter Druck gebracht hatten, inzwischen wieder etwas entspannt haben, dürfte es nun für viele energieintensive Betriebe eng werden. Erste Firmen fahren einzelne Produktionsstandorte bereits vorübergehend herunter und versetzen sie in eine Art Winterschlaf. „Diese Lösung ist in der juristischen Umsetzung aufwändig, kann sich aber wirtschaftlich sehr wohl lohnen und ist in manchen Fällen schlichtweg alternativlos“, sagt Martin Tasma, Restrukturierungspartner bei Hengeler.
Risikofaktor Leveraged Buy-out
Riskant dürfte die Lage auch für einige Firmen werden, die in Boom-Zeiten von Finanzinvestoren mit reichlich Leverage gekauft wurden und bald neu finanziert werden müssen. Das betrifft aktuell besonders die Jahrgänge 2017 und 2018 in den Portfolios der Private Equity-Gesellschaften. „Wer vor vier bis fünf Jahren teuer gekauft und günstig fremdfinanziert wurde, kann unter Umständen Schwierigkeiten haben, die bestehende Finanzierung zu tragbaren Konditionen zu refinanzieren“, meint Tasma.
Wenn die Liquidität dahinschmilzt, kann dieser Punkt sogar noch schneller erreicht sein. Denn obwohl gegen Ende der 2010er-Jahre immer mehr Finanzierungen ohne oder fast ohne „Covenants“ (Vorgaben für zentrale Finanzkennzahlen) vereinbart wurden, greifen gelegentlich sogenannte „Springing Covenants“. Diese sind Teil der revolvierenden Kreditfazilität, die die eigentliche Kaufpreisfinanzierung flankiert, und lassen die Warnlampen aufleuchten, wenn die Kreditlinie zu einem bestimmten Prozentsatz gezogen wird.
Anders als bei bestimmten Leveraged Buy-out (LBO)-Finanzierungen droht bei Unternehmensfinanzierungen insgesamt aber wohl keine Häufung fälliger Umschuldungen zu einem bestimmten Zeitpunkt, wie sie nach der großen Finanzkrise befürchtet wurde und sich zum Teil auch bewahrheitete. „Die meisten CFOs und Geschäftsführer haben ihre Hausaufgaben gemacht und sich in den vergangenen Jahren langfristig gute Konditionen gesichert, so dass eine größere Zahl von Refinanzierungen nicht vor 2024 zu erwarten ist“, meint Josenhans.
Mehr Werkzeuge im Kasten
Wenn an der Restrukturierung trotzdem kein Weg mehr vorbeiführt, stehen inzwischen auch andere Werkzeuge zur Verfügung als vor zehn Jahren, allen voran das 2020 eingeführte Unternehmensstabilisierungs- und Restrukturierungsgesetz (StaRUG). Gerichtlich durchgeführt wurden StaRUG-Verfahren bisher zwar kaum, doch seine Wirkung hat das neue Modell zur Sanierung ohne Insolvenz trotzdem entfaltet. Derartige Verfahren würden „in einer Vielzahl an Fällen hinter den Kulissen vorbereitet und als Druckmittel zur Erzielung einer Einigung eingesetzt, so dass es insofern seinen intendierten Zweck durchaus erfüllt”, berichtet Freshfields-Restrukturierungspartner Marvin Knapp.
Die Beschränkungen des StaRUG – es gilt nur für deutsche Konzerngesellschaften und ihre Verbindlichkeiten, außerdem nicht für Finanzierungen nach englischem Recht – bedeuten zwar, dass die praktische Relevanz ihre Grenzen hat. Um Restrukturierungen per Mehrheitsentscheidung durchzuziehen, kommt dann meistens das englische „Scheme of Arrangement“ zum Einsatz. Dieses biete „auch insofern mehr Flexibilität, als es auf Konzerngesellschaften in unterschiedlichen Ländern angewendet werden kann“, ergänzt Knapp. Was nichts daran ändert, dass die meisten Unternehmenslenker, Eigner und Gläubiger froh sein dürften, wenn sie sich nicht zwischen schönen und besonders schönen Restrukturierungslösungen entscheiden müssen.