Europäische Insolvenzverordnung im Überblick
Die Neufassung der EUInsVO verfügt über einen deutlich erweiterten Anwendungsbereich. Präventive Sanierungstools sollen gefördert und die Brücke zur Richtlinie für präventive Restrukturierungsrahmen (COM 2016, 723 final) geschlagen werden. Künftig sind Insolvenz oder Verwalterbestellung keine zwingenden Voraussetzungen mehr, auch Verfahren im Vorfeld der Insolvenz („likelihood of insolvency“) werden einbezogen. Die Neufassung lässt die Kontrolle oder Aufsicht durch ein Gericht ausreichen. Auch muss es sich nicht mehr um ein voll-kollektives Verfahren handeln. Es genügt die Beteiligung eines wesentlichen Teils der Gläubiger (z. B. Finanzgläubiger), soweit das Verfahren nicht die Forderungen der unbeteiligten Gläubiger berührt. Ausgeschlossen bleiben vertraulich geführte, informelle workouts, ebenso wie genuin gesellschaftsrechtliche Verfahren ohne ausschließliche Insolvenzausrichtung.
Koordination bei Unternehmensgruppen
Mit neuen Konzepten im Bereich internationaler Unternehmensinsolvenzen entwickelt der europäische Gesetzgeber die europäische Sanierungskultur zudem fort. Neben Regelungen zur Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen Verwaltern und Gerichten, die die in der Praxis bereits bewährten flexiblen Vereinbarungen in die EuInsVO überführen, werden insb. die Mitwirkungsrechte der Insolvenzverwalter in Parallelverfahren über gruppenangehörige Schuldner gestärkt. Zum einen sind Verwalter berechtigt, einem anderen Verwalter aus ihrer Mitte zusätzliche Befugnisse zu übertragen oder Aufgaben unter sich aufzuteilen. Zum anderen können sie zur effektiveren Verfahrensführung auf andere Verfahren Einfluss nehmen, z. B. indem sie in anderen Verfahren gehört werden oder eine zeitlich begrenzte Aussetzung einer Verwertungsmaßnahme beantragen.
Herzstück der Neuregelung ist das Gruppen-Koordinationsverfahren, welches eng an das in Deutschland erst kürzlich beschlossene Konzerninsolvenzverfahren angelehnt ist. Es erlaubt die Bestellung eines unabhängigen Koordinators, der die Einzelverfahren durch Empfehlungen und einen Gruppen-Koordinationsplan enger aufeinander abstimmen soll. Der Plan und die Empfehlungen sind für die beteiligten Verwalter freiwillig. Ob damit die erhofften Effizienzvorteile realisiert werden können, muss sich in der Praxis zeigen.
Zukünftig kann ein Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens außerdem das „Störpotenzial“ von Sekundärinsolvenzverfahren im Mitgliedstaat einer Niederlassung durch einen Antrag auf zeitlich begrenzte Aussetzung der Verwertung oder durch die Abgabe einer bindenden Zusicherung abfangen. Dieses Konzept wurde bereits in Fällen wie MG Rover oder Collins & Aikman erfolgreich genutzt. Es ist darauf gerichtet, die lokalen Gläubiger wie in einem „synthetischen“ Sekundärinsolvenzverfahren nach dem auf sie anwendbaren lokalen Recht zu behandeln und setzt u. a. die mehrheitliche Billigung der lokalen Gläubiger voraus. Hierfür sollen im Falle einer deutschen Niederlassung die Regeln des Insolvenzplanverfahrens herangezogen werden, d. h. der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens muss Gruppen bilden und einen Abstimmungstermin ansetzen. Die Regelung ist gerade mit Blick auf vorgesehene Rechtsmittel anspruchsvoll und daher wohl eher für größere Fälle geeignet.
Verjüngungskur
Die „neue“ EuInsVO behält die bisherige Struktur bei, spiegelt aber wesentliche Entwicklungen in Rechtsprechung und Praxis. Zentrales Kriterium für die Frage der Eröffnungszuständigkeit und damit für das anwendbare materielle Insolvenzrecht bleibt der „centre of main interest“ des Schuldners, kurz: COMI. Dieses Kriterium hat sich bewährt. Die zwischenzeitlichen Präzisierungen des EuGH finden sich nun in der Verordnung. Als COMI wird der Ort angesehen, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und der für Dritte feststellbar ist. Die bisherige Vermutung, dass der COMI am Satzungssitz ist, gilt künftig nicht bei Sitzverlegungen ins Ausland innerhalb von drei Monaten vor Antragstellung (sog. Suspektperiode). Dahinter steht die Erwägung, dass ein sog. forum shopping in unmittelbarer Nähe zur Insolvenzreife die Gefahr von Umverteilungseffekten zu Lasten der Gläubigergesamtheit begründet. Ausdrücklich geregelt wurde zudem die Zuständigkeit des Gerichts des Hauptinsolvenzverfahrens für sog. Annexklagen, die sich direkt aus dem Insolvenzverfahren ableiten und eng damit verknüpft sind, z. B. die Insolvenzanfechtungsklage. Neu ist die Möglichkeit zur Herbeiführung einer Verfahrenskonzentration am Gerichtsstand einer anderen zivil- oder handelsrechtlichen Klage im Anwendungsbereich der EuGVVO, die mit einer Annexklage im Zusammenhang steht. Schließlich sieht die Neufassung ein europaweit online zugängliches, vernetztes Insolvenzregister ab Juni 2019 vor.