„Human Resources ist ein analytisches Feld“, ARAG-Konzernvorständin Shiva Meyer.
PLATOW: Demografischer Wandel: Wie viele ihrer Mitarbeiter erreichen bis 2040 das Rentenalter und wie ist es bei Spezialisten-Positionen?
Shiva Meyer: Kurz und knapp: Ein Drittel wird bis dahin in den Ruhestand gehen. Bei den Spezialistenfunktionen wie etwa im Bereich „mathematisch-analytische Profile“, also Underwriter, Aktuare, Data-Scientists oder auch Experten im Risikomanagement, sind wir aktuell quantitativ und qualitativ sehr gut aufgestellt.
PLATOW: Daran scheitern viele Häuser. Was ist ihr Geheimnis?
Shiva Meyer: Tatsächlich ist unser Recruiting-Kanal in diesem Bereich nicht der digitale, wo wir insgesamt sehr stark sind, sondern der persönliche. Wir sind dort über unser Mitarbeiterempfehlungsprogramm „Einstellungssache“ erfolgreich. Es ist eine Auszeichnung für uns als Arbeitgeber, dass unsere Mitarbeitenden uns empfehlen.
Den demographischen Wandel begreifen wir eher als Chance, um neue Skills in die ARAG zu integrieren und so unsere Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen. Dazu gehört beispielsweise eine hohe Technologieaffinität, vor allem vor dem Hintergrund der künstlichen Intelligenz (KI), aber besonders eine hohe Veränderungsbereitschaft, Lernagilität und Neugier. Das sind Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die sich nicht leicht intern entwickeln lassen. Wir haben aus diesem Gedanken heraus im Bewerbungsprozess sogenannte Wild Cards eingeführt. Wir laden dabei bewusst Kandidaten für eine Stelle ein, obwohl sie laut Lebenslauf nicht optimal passen. Dafür bringen sie aber vielleicht die gerade genannten Fähigkeiten mit, sind also lern- und veränderungsbereit. Damit fahren wir gut.
PLATOW: Anpassungsfähigkeit als Kernkompetenz, um die 2040er-Lücke zu schließen?
Shiva Meyer: Zumindest ist es eine Schlüsselfähigkeit. Ich möchte voranstellen, dass wir die freiwerdenden Stellen nicht eins zu eins wieder nachbesetzen, denn das Anforderungsprofil wechselt. Quantitativ werden wir 2040 aufgrund unseres Erfolgs und rasanten Wachstums wahrscheinlich mehr Mitarbeitende haben als derzeit mit über 2400 in Deutschland und über 2600 international. Wir heben dabei Skaleneffekte und Digitalisierungspotenziale. Ich kann in aller Bescheidenheit sagen, wir haben eine weitsichtige, intelligente Personalplanung.
PLATOW: Inwiefern?
Shiva Meyer: Mit intelligent meine ich, dass wir ziemlich viel planen, aber nicht technokratisch sind, was uns auch in unserer Größe noch wendig agieren lässt. Um es anhand eines Beispiels zu konkretisieren, wir haben unsere digitalen Sourcing- und Recruiting-Kanäle intensiv genutzt und uns dort zielgruppenspezifisch positioniert. Wir haben analysiert: Was sind unsere Zielgruppen, welche Persona steckt da eigentlich dahinter und wie erreichen wir sie. Dementsprechend haben wir uns je Kanal, wie bspw. LinkedIn, entsprechend für diese Zielgruppen aufgestellt. Wir nutzen künstliche Intelligenz, um Stellenbeschreibungen und Search-Engine-Optimierung zu verbessern und sichtbarer zu werden. Unsere Karriere-Webseite haben wir komplett überarbeitet und uns überlegt: Wie müssen wir uns für welche Zielgruppe positionieren, welche Art von Content bieten wir an, wer antwortet dem Interessenten und nach welcher Frist? Dadurch ist die Verweildauer von Interessenten auf der Karriere-Webseite um 25% gestiegen, die Zeit bis zur Einstellung um 15% verkürzt worden und die Anzahl an Bewerbungen pro besetzte Stelle hat sich mehr als verdoppelt. Wir wollen für Interessenten greifbar, authentisch und nahbar sein.
PLATOW: Können Sie die Neuen halten?
Ja, intern sagen wir gerne: „Wer länger als ein Jahr da ist, der bleibt auch“. Die Fluktuation liegt bei weniger als 7% einschließlich der steigenden Renteneintritte, und bei den mathematisch-analytischen Berufen sogar deutlich darunter.
PLATOW: HR-Zahlen werden bei ihnen offenbar genau erhoben.
Shiva Meyer: Auf jeden Fall. Human Resources ist ein analytisches Feld und als ich vor rund anderthalb Jahren in den Vorstand berufen wurde, haben wir den Bereich People Analytics direkt und gezielt ausgebaut. Personaldaten wie beispielsweise Fluktuation werden genau analysiert.
Wir haben Dimensionierungsprozesse, in denen wir jährlich das Wachstumsvolumen messen sowie Digitalisierungsprojekte und deren Auswirkungen antizipieren, sodass wir den Personalbedarf jederzeit prognostizieren und steuern können. Dadurch entsteht eine quantitative Kapazitätsplanung, sodass nur benötigte Stellen zur Besetzung freigegeben werden. Es ist wichtig, dass das Unternehmen im Erfolg nicht zu schnell neue Kapazitäten aufbaut, andererseits darf die Belegschaft nicht überlastet werden. Das Thema Einstellungen wird daher auch stets im Vorstand besprochen, ohne sich allerdings als Polizei zu verstehen: Einstellung ist ein vertrauensbasierter Prozess der Kollaboration.
PLATOW: Was ist mit Schlüsselpositionen?
Shiva Meyer: Wir haben komplexe Berufsfelder, in denen teilweise jahrzehntealtes ARAG-Know-how drinsteckt und das nicht auf viele Köpfe verteilt ist. Beispielsweise in der Produktentwicklung. Solche Positionen gehen wir frühzeitig an und besetzen sie bis zu zwei Jahre vorab. Damit ist erstens die Nachfolge sichergestellt und zweitens, dass der Scheidende sein Wissen weitergeben kann. Wir nennen das Modell Shadowing-Tandems. Das ist wichtig, dadurch wird kein Geld zu viel ausgegeben.
PLATOW: Apropos ausgeben, die Ressource Mitarbeiter wird knapp…
Shiva Meyer: und dadurch stellenweise teurer, klar. Das ist ein Aspekt, den wir berücksichtigen müssen, schließlich sind wir ein sehr solides Wirtschaftsunternehmen mit starken Wachstumsambitionen und werden das auch bleiben. Wenn wir nur über das Gehalt argumentieren, ziehen wir nicht die für uns richtigen Menschen an.
PLATOW: Das gelingt wie?
Shiva Meyer: Es klingt vielleicht plump, ist aber Tatsache: Unser Status als Familienunternehmen zieht. Dieser Effekt ist durch die gesellschaftliche und geopolitische Unsicherheit noch stärker geworden. Die Menschen suchen Werte; dazu gehören Sicherheit und Kontinuität, aber eben auch die Geschäftsidee „Zugang zum Recht“ und der ARAG-Wertekodex. Wir denken nun einmal nicht in Quartalen, sondern langfristig. Dadurch entsteht ein Zusammengehörigkeitsgefühl, ein sozialer Klebstoff, der nicht mess-, aber spürbar ist und, davon bin ich überzeugt, den Erfolg und damit die Unabhängigkeit des Unternehmens sichert. Wir verstehen uns bei der ARAG als Werte- und Wertschöpfungsgemeinschaft.
PLATOW: Also kein ängstlicher Blick Richtung Tarifverhandlungen?
Shiva Meyer: Rund 70% unserer Belegschaft unterliegen dem Tarifvertrag und die Tarifverhandlungen starten in Kürze. Insofern warten wir gespannt auf die Ergebnisse. Klar ist, dass der Verbraucherpreisindex in den letzten drei Jahren schneller stieg als der Gehaltsindex der Versicherungsbranche, was in einem Reallohnverlust mündete. Die ARAG hat daher in 2023 und 2024 die Inflationsausgleichsprämie in vollem Maße ausgeschöpft und auch zwei Jahre zuvor die Corona-Prämie freiwillig gezahlt.
PLATOW: Als sie im April 2023 Konzernvorstand wurden, hatten Sie da eine Agenda?
Shiva Meyer: Natürlich. Drei Dinge treiben mich an: Wie bereits beschrieben, ist es essenziell, personalseitig den ambitionierten Wachstumspfad der ARAG quantitativ wie qualitativ zu begleiten. Eine zweite Priorität ist, die Identität der ARAG als innovatives, internationales Familienunternehmen nicht nur über die Grenzen von Düsseldorf, sondern auch international bekannt zu machen. Dann gibt es eine dritte wichtige Priorität, der internationale Generationenwandel in der nahen Zukunft. Wir haben internationale CEOs, die bis zu 25 Jahre bei der ARAG sind. Die Nachbesetzung ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor.
PLATOW: Was ist mit Frauen- und Migrationsquoten?
Shiva Meyer: Mitarbeitende mit internationalen Profilen, die gerne auch besser Englisch als Deutsch sprechen, halte ich für wichtig. Bei uns arbeiten 42 Nationalitäten, was wesentlich zum Erfolg beiträgt. Wir haben die Frauenquote auf der Ebene unter dem Vorstand mehr als verdreifacht und liegen bei 32%. Auf der Ebene darunter sind es 40% und unter dieser 62%. So stark waren wir bei Frauen in Führungspositionen noch nie aufgestellt. Bei den angesprochenen internationalen CEOS sind es 30% Frauen. Darüber hinaus haben wir auch Vorständinnen und Geschäftsführerinnen in Teilzeit. Bei unserem internationalen Entwicklungsprogramm ARAG Global Growth Network sind 55% der Teilnehmenden weiblich.
Aber ich finde es zu einseitig, mein Vorstandsamt oder auch meine Mandatszeit an einer einzigen Zahl festzumachen. Wir messen ganz viele Dinge und versuchen, in einem Strauß an Indikatoren Wahrheit zu finden. Das Aufhängen an einer Messgröße kann dazu führen, sich die Welt schönzureden oder sich unsachgemäß zu verbeißen. Es geht nicht um den einzelnen Indikator, sondern darum, für das Unternehmen eine Substanz zu schaffen, aus dem Talent nachwachsen kann. Bis hinauf in die höchsten Ebenen.
PLATOW: Hilft KI beim Bau dieser Basis oder schadet sie?
Shiva Meyer: KI ist eine große Chance, denn Rechtschutz als unser Kerngeschäft basiert auf dem geschriebenen Wort und Daten. In den Niederlanden darf die ARAG, im Gegensatz zu Deutschland, auch Rechtsberatung anbieten und beschäftigt Anwälte. Diese werden durch KI nicht ersetzt, sondern die Anwälte arbeiten mehr wie ein Senior-Partner in einer Kanzlei: Sachverhalte prüfen, Aspekte hinterfragen oder Plausibilitätsprüfungen durchführen. Das finden die Juristen spannend, nicht das stundenlange Lesen einer Akte auf der Suche nach zwei, drei entscheidenden Punkten oder Begriffen. Das kann die KI besser und schneller.
Die Technik kann ein Turbo und Arbeitserleichterung für viele Mitarbeitende sein. KI führt zu einer Effizienzsteigerung, sodass sich unsere Mitarbeitenden – und wir haben eher hochqualifizierte, gutbezahlte – sich mehr mit den spannenden und wertschöpfenden Tätigkeiten beschäftigen können. Im Personalbereich reaktivieren wir aktuell auf KI-Basis einen etwas eingeschlafenen Chatbot, sodass die Mitarbeitenden Fragen schnell beantwortet bekommen, wenn gerade kein Personaler erreichbar ist. Das entlastet und erhöht gleichzeitig das Servicelevel.
PLATOW bedankt sich für das Interview, das Maximilian Volz führte.